Unsichtbar-ein Thema der Antike - Verlag-Blaues-Schloss

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Veranstaltungen 2019


    
"Unsichtbar" – ein Thema der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart
PD Dr. Boris Dunsch
Café Vetter, So, den 14. Juli 2019     



Wer das Servieren eines zweiten Aufgusses der Antrittsvorlesung* von  Boris Dunsch (*vom 27. 10. 2017 in der Altphilologie in Marburg)  erwartet hatte, war überrascht, stattdessen vielmehr in den Genuss eines  vielfältig aufgearbeiteten und ergänzten Vortrags gekommen zu sein.
      
Zumal der Vortragende mit seinem unscheinbaren und zurückhaltenden Titel: „Unsichtbar – ein Thema der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart“ nicht zu viel versprochen hatte.
      
Es war, als ob der Altphilologe Dunsch –  ähnlich unternehmungsfreudig wie der hinkende Teufel, der den Studenten Don Cléofas Léandro Perez Zambullo  ins Innere der Madrider Geheimnisse führt –  den Zuhörer an die Hand  nahm, ohne aber Dächer abzuheben, der besseren Sicht auf die  menschlichen Geheimnisse wegen, und ohne dem diabolischen Anliegen des  Hinkenden zu verfallen.
      
Bestenfalls „verfallen“ dem Anliegen der freundlichen  Unterrichtung, so wie einst die hellen und lichten Götter Griechenlands  sie recht gerne betrieben. Ja, fast schien es, als habe mal so eben Hermes oder Athene  sich persönlich anerboten, gemeinsam eine kleine Zeitreise von der  Gegenwart über die nähere und fernere Vergangenheit bis hin ins ferne  alte Griechenland zu unternehmen.

Recht  lebendig für sein Fach also veranschaulichte der  passionierte Altphilologe die Entwicklung des vielschichtigen Themas „Unsichtbarkeit“, beginnend mit dem Roman „Der menschliche Makel“ (Human Stain) von Philipp Roth aus dem Jahre 2000, dann weitergehend über Michel Foucaults Supervision aus dem Jahre 1975 „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ über das Panoptikum eines von Jeremy Bentham im Jahre 1787 entworfenen Gefängnisbaus, bis hin zu J.R.R. Tolkiens „The Lord of the Rings“.



Rot aufleuchtend lief der Ariadnefaden zum 1952 erschienenen Roman „Unsichtbarer Mann“ (invisible Man) von Ralph Ellison,  hin zu den Werken der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zur  zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Spiritismus und über die  Gespenster, zu deren systematischer Erforschung 1882 die „Society for Psychical Research“ gegründet wurde, die bis heute recht munter fortbesteht, hingegen die Gespenster immer schwerer um ihr Überleben kämpfen.



Diesem Research schloss sich 1726 ein weiterer Höhepunkt der Beobachtungsfreude mit Alain-René Lesages „Der hinkende Teufel“ an mit dem poetischen Namen Asmodeé. Der anfänglich genannte Student Don Cléofas Léandro Perez Zambullo  hatte Asmodeé aus einer Flasche befreit. Als Dank legte der befreite  Teufel dem jungen frischen Akademikerblick detailfreudig Madrids geheime  Freuden und Leiden offen (wobei wahrscheinlich der Franzose Lesages  charmant pariser Schwächen ins Ausland verlegte).

Ja, Paris! Paris! Da ließ Rousseau mit der begeisterten Offenlegung seiner Träumereien bei seinem sechsten Spaziergang  nicht lange auf sich warten, so naturhaft lauerte schon die Neigung zum  Voyeurismus  gleichsam erregt wie der bocksfüßige Pan im nicht nur  schattenspendenden Gebüsch. Roussau folgte –  oder besser, ging voraus,  weil ja der Faden in die Vergangenheit läuft – der Hinweis auf das „Handbuch der Verstellung“ des Jesuiten Baltasar Gracián im Jahre 1647.
        
Der Zuhörer, ja selbst manch Zuhörerin, war nun am roten Faden im zehnten Jahrhundert bei den Lauteren Brüdern von Basra angekommen, einer anonymen Gruppe arabischer Gelehrter, den Verfassern der 52 Briefe „Der Brüder der Reinheit“.
      
Im vierten Jahrhundert nach Christus greift der heilige Ambrosius von Mailand in seinem Werk das Thema „Über die Pflichten der Diener der Kirche“  die ciceronische Fassungder Gygesgeschichte auf, bis der fußbeflügelte  Altphilologe endlich in seine Heimat im alten Griechenland und Rom bei Herodot, Homer, Cicero und weiteren,  einem Früchtekorb der  Menschenkenntnis, angekommen war.
      
All diese Beispiele der Erscheinungsformen des Unsichtbaren  durch die Jahrtausende zeigen, wie wenig augenscheinlich einerseits das  Unsichtbare ist, doch wie vielseitig sichtbar seine Wirkungen und Möglichkeiten.

Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit im Wechsel
als Mittel der Macht und Folge der Ohnmacht

Dass beides zwei Seiten einer Medaille sind, wird zum einen  deutlich, falls die Unsichtbarkeit einer Person ein Mangel an Ansehen  und somit einen Mangel an gesellschaftlicher Macht bedeuten kann. Unfreiwillige Unsichtbarkeit  kann also ein Ausdruck von Ohnmacht sein.“ Genauso aber zum anderen  kann auch einen Mangel an Macht eine „unfreiwillige Sichtbarkeit“ wie  zum Beispiel das unfreiwillige zur Schaugestelltsein in sozialen  Netzwerken bedeuten.
    
Ist aber die Unsichtbarkeit freiwillig,  dann kann sie durchaus ein Zeichen „gesellschaftlicher Macht sein, etwa  im Falle von im Verborgenen operierenden Organisationen wie z.B.  Geheimdiensten oder auch anderen klandestin operierenden  nichtstaatlichen Akteuren.“ Ja, freiwillige Sichtbarkeit dient „geradezu  der Zurschaustellung einer gesellschaftlichen Machtposition, wie dies  z.B. bei der Inszenierung von Macht im Rahmen von Zeremonien der  verschiedensten Art seit der Antike praktiziert wird.“

Böser Blick und das Auge des Gesetzes

Von entscheidender Bedeutung ist in jedem Fall der „Blick“,  „dessen Macht und magische Bedeutung seit Urzeiten überliefert wird.  Wir kennen noch heute“, so vergegenwärtigte der Vortragende, „den  Ausdruck ‚böser Blick‘ für den Glauben an das Potential  des Blickes eines Menschen, einem anderen, den man anblickt, durch  ebendiesen Blick Schaden zufügen zu können.“
        
Bild l: Römisches Mosaik aus dem Haus des Bösen Blicks in Antiochia
      
Und wenn schon der wachsame Blick mit dem wirkmächtigen Auge  genannt wird, so wird dem Optimisten auch recht schnell „das ‚Auge des Gesetzes‘  wirksam sein, dem die Untat des Verbrechers nicht entgehen wird. Diesem  sprachlichen Bild liegt letztlich die Vorstellung des allsehenden  Gottes zugrunde, wohl primär des Sonnengottes, dessen Blick die gesamte  Erde erfasst.“
        
Viel zu sehen kann also auch bedeuten, viel zu haben. „Wer also viel zu sehen vermag, hat eine besondere Machtposition inne.“    Bild rechts: Christian Wilhelm Allers (1857–1915) Das Auge des Gesetzes.
        
Dies formuliert im 4. Jh. v. Chr. bereits der Sokratesschüler Xenophon in seiner Kyrupädie,  dem ersten Fürstenspiegel der abendländischen Literatur, indem er über  das Netzwerk, das sich der persische Großkönig Kyros II. zur  Informationsbeschaffung aufgebaut hatte, schrieb: „Wir haben auch  erfahren, dass er sich die sogenannten Augen und Ohren eines Königs  nicht anders verschaffte als durch Geschenke und Ehrungen.“
        
Der Zweck war so offensichtlich wie der helle Tag.
  
„Denn indem er diejenigen“, so fuhr Xenophon  fort, „die ihm wichtige Auskünfte gaben, großzügig belohnte, brachte er  viele Leute dazu, ihre Ohren und Augen für alles offenzuhalten, was sie  dem König mitteilen konnten, um ihm nützlich zu sein. Darum hieß es  auch, der König habe viele Augen und Ohren.“
   
Die Wachheit instrumentalisierter Augen und Ohren
erzeugt das Gespenst der Angst
   
Diese Vielzahl der Sinnesorgane, oder besser gesagt der  Prothesen, zu denen die Sinnesorgane der anderen instrumentalisiert  werden, erzeugt die Macht durch Angst. Und sie besteht, wie Dunsch durch Xenophon sichtbar machte, nicht erst seit Orwells „1984“.
      
„Überall hat man Angst, etwas für den König Nachteiliges zu sagen,  als ob er selbst es hörte, oder etwas für ihn Nachteiliges zu tun, als  ob er selbst dabei sei. So ergab es sich, daß niemand es wagte, einem  anderen gegenüber etwas Schlechtes über Kyros zu erwähnen, sondern jeder  verhielt sich so, als ob er überall den allgegenwärtigen Augen und  Ohren des Königs ausgesetzt sei.“
      
Das altbekannte Herrschaftsmodell „unsichtbare Wächter, sichtbare Bewachte“ fand seine architektonische Vervollkommnung im „Idealgefängnis“, dessen Entwurf der britische Philosoph Jeremy Bentham im Jahre 1787 veröffentlichte. Bei dem sinnigerweise als Panopticon  bezeichneten Gefängnisbau handelt es sich um ein Gebäude, „das es den  Aufsehern auf höchst effiziente und personalsparende Weise ermöglicht,  von einem zentralen Beobachtungsturm aus, um den die Zellen in einem  ringförmigen zweiten Bau angeordnet sind , alle Gefängnisinsassen  beobachten zu können, ohne dass diese die Wächter sehen können.“
    
Doch auch diese Idee, wie viele andere perfide Grundideen der Macht, ist nicht neu. So hat der Althistoriker Martin Jehne die „Invisibilisierung der Macht des Kaisers“ im Zusammenhang mit der Machtübernahme von Octavian/Augustus  als „eine entscheidende politische Taktik erkannt. Paradoxerweise kann  man nämlich, wie es Augustus gezeigt und viele andere Herrscher nach ihm  ebenso praktiziert haben, gerade dadurch mehr Macht ausüben, dass man  sich äußerlich den Anschein gibt, über weniger zu verfügen, wenn man  sich z.B. im römischen Senat als `Erster unter Gleichen‘ stilisiert.“
           
Tyrannei hat Methode

Bereits Aristoteles hatte im fünften Buch seiner Politik darauf hingewiesen, dass es für Tyrannen zwei grundsätzlich verschiedene Methoden gebe, Macht zu erlangen und zu erhalten.
      
„Die erste bestehe darin, die Einwohner der von ihm beherrschten  Polis stets für den Tyrannen sichtbar (phaneroi) zu halten, indem er  u.a. Spionage einsetzt und geheime Treffen der Beherrschten verbietet.
      
Die zweite Methode bestehe darin, dass der Tyrann sich selbst für  die Beherrschten unsichtbar macht. Dadurch seien sie nicht in der Lage,  seine wahre Natur zu durchschauen und nähmen an, der Tyrann sei ein  anderer als er tatsächlich ist. Er spielt die Rolle eines guten Königs,  er gibt vor, ein ehrlicher Geschäftsmann zu sein, ein Wächter der  öffentlichen Ausgaben. Er soll so erscheinen (phainesthai), als sei er  gerade kein Tyrann, sondern ein loyaler Statthalter.“ Die Latenz der  Macht als besonders effiziente Machttechnologie „kritisiert neuerdings  der Kulturwissenschaftler Harald Welzer in seinem sehr lesenswerten Band ‚Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit‘

Kontrolle perfekt
    
Die letzte Steigerungsstufe in der Überwachung und Kontrolle beschreibt der spanische Jesuit Baltasar Gracián bereits im „Handorakel oder Kunst der Weltklugheit“, das 1647 erschien, welches später Schopenhauer übersetzte:
„Stets handeln, als würde man gesehen. Der ist ein umsichtiger  Mann, welcher sieht, daß man ihn sieht oder doch sehen wird. Er weiß,  daß die Wände hören, und daß schlechte Handlungen zu bersten drohen, um  herauszukommen. Auch wenn allein, handelt er wie unter den Augen der  ganzen Welt. Denn da er weiß, daß man einst alles wissen wird, so  betrachtet er als schon gegenwärtige Zeugen die, welche es durch die  Kunde späterhin werden müssen. Jener, welcher wünschte, daß die ganze  Welt ihn stets sehen möchte, war nicht darüber besorgt, daß man ihn in  seinem Haus aus dem nächsten beobachten konnte.“
      
 Schon der römische Stoiker Seneca hat in Anlehnung an Epikur formuliert:
„Einen Mann von Wert müssen wir hochachten und uns stets vor Augen  halten, damit wir so, als schaue er uns zu, leben und alles, als sähe er  es, tun.“

Ein Ring, der durch die Menschheitsgeschichte geistert
    
         
Die Betrachtung der Unsichtbarkeit im engeren Sinne ist im  gleichen Maße vielfältig und anschaulich, wie es Dunsch an den  literarischen Beispielen von der Gegenwart bis zu Herodot, Platon und Cicero ausführte.
Eine zentrale Grundidee, die auf Platon zurückging, war die Geschichte vom Ring des Gyges.  Ein Ring, der unsichtbar machte und sich Unsichtbarkeit somit in den  Dienst des Tragenden stellte mit durchaus tragischen Folgen.
      
   
Bild :  Eglon Hendrik van der Neer "Wife Discovering the Hiding Gyges
                                                                                                         
Es nimmt kaum wunder, dass sich bei den Menschen der Wunsch  entwickelt, „genau diese Eigenschaft ebenfalls zu besitzen, gilt die  Unsichtbarkeit doch als Eigenschaft der Götter.“                                           
Ist aber „wie die Götter zu sein“ der Weg zum menschlichen Glück?

Und die Moral von der Geschicht‘ ….
        
Damit kam der Vortragende zum Kern der Problematik von Sichtbarkeit  und Unsichtbarkeit, wie er unter anderem in der Gygesgeschichte sichtbar  wird.
      
„Schon allein indem Gyges den Ring benutzt, um sich  unsichtbar zu machen, stellt er sich außerhalb der menschlichen  Gemeinschaft. Magische Ringe der Macht sind für Menschen nicht. Ein  Mensch wie Gyges mag zwar straflos seinen Begierden nachgehen, aber es  ist doch sehr daran zu zweifeln, ob man bei einem Leben, das einen  Großteil der Zeit im Verborgenen geführt wird, tatsächlich von einem  gelungenen oder gar geglückten Leben sprechen kann. In aller Regel  benötigt jeder Mensch, da er seiner Anlage nach ein Gemeinschaftswesen  ist, Anerkennung, Zuwendung und Liebe. Die Befriedigung materieller  Bedürfnisse und Wünsche allein reicht nicht aus. Überdies muss Gyges, um  sich nicht zu verraten, alle Schandtaten, die er unerkannterweise  begangen hat, selbst öffentlich verurteilen, wenn er wieder sichtbar  ist, nach diesen gefragt wird. Wie lange ein Mensch diese spezifische  Form der Heuchelei ertragen kann, bleibe dahingestellt.“
      
Damit hatte Dunsch sichtbar gemacht, was den Göttern nicht verborgen war:
„So war‘n se halt, die alten Römer und so sind se* [*die Menschen] halt noch heute.“

Eine zum Vortrag erweiterte Darlegung des Themas "Unsichtbar" ist in der Uni im Café  Reihe in Planung.
    
         
         

    

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