Veranstaltungen 2017
Sergej Nikolaevič Esin
und Anatolij Vasil'evič Korolev (Moskau)
und Anatolij Vasil'evič Korolev (Moskau)
lasen aus dem Roman:
"Der Lebenslauf eines Schriftstellers in Porzellan, Glas und kleinen Gebrauchsgegenständen"
und die Geschichte
„Eine Sammlung von Asche“
"Der Lebenslauf eines Schriftstellers in Porzellan, Glas und kleinen Gebrauchsgegenständen"
und die Geschichte
„Eine Sammlung von Asche“
So., 29. Oktober 2017, 11 Uhr, Café Vetter, Marburg
Ludwig Legge:
"Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie gekommen sind, denn wir haben heute etwas Besonderes zu bieten: zwei Gäste aus Moskau. Sergej Nikolaevič Esin und Anatolij Vasil'evič Korolev. Esin ist Ihnen auch schon länger bekannt. Und er ist mit Marburg verbunden durch seinen „Marburg“ Roman. Und wenn Sie bedenken, dass eine uneinsichtige Landesregierung die Slawistik in Marburg abgeschafft und nach Gießen verlegt hat, und kein gebildeter Russe Gießen, wohl aber Marburg durch Michail Wassiljewitsch Lomonossow kennt, dann wird man verstehen, dass es eine wichtige Aufgabe für uns ist, diesen Kontakt beizubehalten. Das aber wäre nicht möglich ohne den Einsatz von Babara Karhoff und Wilhelm Lückel, bei denen ich mich noch einmal ausdrücklich bedanken möchte.“
Sergej Nikolaevič Esin:
"Ich möchte mich ganz herzlich bei Herrn Legge bedanken, der auch an meine Romane erinnert hat, die schon vor so langer Zeit geschrieben worden sind, dass ich sie fast selbst vergessen habe.
Ich bin schon mehrfach hier gewesen und es ist für mich eine große Ehre, hier bei Ihnen aufzutreten. Es ist Ihnen auch zu verdanken, dass Sie sich schon am Morgen hier versammelt haben, um die nicht einfache Sache von Literatur zu hören und zu genießen. Heute ist ein sonniger Tag und ich würde Ihnen gerne etwas Lustiges vorlesen, aber die russische Literatur hat viele tragische Akzente, was sich auch im Leben äußert. Ich möchte auch an meinen Roman 'Marburg' erinnern, der zu meinen beliebtesten gehört. Er ist nicht nur ein Porträt der Stadt Marburg, sondern es sind auch einige Menschen porträtiert, bei denen ich zu Gast sein konnte. Und eben auch zwei unserer bekannten: Boris Leonidowitsch Pasternak und Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Nun kehren wir zurück, zu dem worüber wir heute reden werden. Ich habe bemerkt, dass heutige Leser nicht so gerne Literatur lesen möchten. Hier werden wohl Memoiren und andere dokumentarische Texte veröffentlicht. Und auch ich habe versucht, mit diesen Themen zu experimentieren und habe einen Roman über das eigene Leben geschrieben. Wissen Sie, Romane schreiben ist eigentlich leicht. Man fängt an zu schreiben und beschreibt dann 100 Dinge im eigenen Haushalt. Mein Roman heißt: "Der Lebenslauf eines Schriftstellers in Porzellan, Glas und kleinen Alltagsgegenständen". Die Lesung heute hätte nicht stattfinden können ohne die Hilfe von Ludwig Legge und Barbara Karhoff und Wilhelm Lückel. Barbara Karhoff ist meine Kollegin, Sie ist Ehrendoktorin unseres Literaturinstituts. Und jetzt zurück zur Literatur.“
Ich bin schon mehrfach hier gewesen und es ist für mich eine große Ehre, hier bei Ihnen aufzutreten. Es ist Ihnen auch zu verdanken, dass Sie sich schon am Morgen hier versammelt haben, um die nicht einfache Sache von Literatur zu hören und zu genießen. Heute ist ein sonniger Tag und ich würde Ihnen gerne etwas Lustiges vorlesen, aber die russische Literatur hat viele tragische Akzente, was sich auch im Leben äußert. Ich möchte auch an meinen Roman 'Marburg' erinnern, der zu meinen beliebtesten gehört. Er ist nicht nur ein Porträt der Stadt Marburg, sondern es sind auch einige Menschen porträtiert, bei denen ich zu Gast sein konnte. Und eben auch zwei unserer bekannten: Boris Leonidowitsch Pasternak und Michail Wassiljewitsch Lomonossow. Nun kehren wir zurück, zu dem worüber wir heute reden werden. Ich habe bemerkt, dass heutige Leser nicht so gerne Literatur lesen möchten. Hier werden wohl Memoiren und andere dokumentarische Texte veröffentlicht. Und auch ich habe versucht, mit diesen Themen zu experimentieren und habe einen Roman über das eigene Leben geschrieben. Wissen Sie, Romane schreiben ist eigentlich leicht. Man fängt an zu schreiben und beschreibt dann 100 Dinge im eigenen Haushalt. Mein Roman heißt: "Der Lebenslauf eines Schriftstellers in Porzellan, Glas und kleinen Alltagsgegenständen". Die Lesung heute hätte nicht stattfinden können ohne die Hilfe von Ludwig Legge und Barbara Karhoff und Wilhelm Lückel. Barbara Karhoff ist meine Kollegin, Sie ist Ehrendoktorin unseres Literaturinstituts. Und jetzt zurück zur Literatur.“
Foto: Karl-Hans Schumacher
Anatolij Vasil'evič Korolev:
„Mir gefällt die Stadt Marburg sehr gut und ganz besonders auch die Menschen, die sich hier versammelt haben und die ich in der Stadt gesehen habe. Besonders Menschen von Angesicht zu Angesicht. Ich glaube, der Mensch muss in einer kleinen Stadt wohnen, besonders da ich im Vergleich dazu in Moskau lebe. Ich lebe in einer sehr großen Stadt, in der das Leben schwierig ist. 15 Millionen leben in dieser Stadt.“
Foto: Karl-Hans Schumacher
Das kürzeste Todesurteil für alle Schreibschulen
„Romane schreiben ist eigentlich leicht. Man fängt an zu schreiben und beschreibt dann 100 Dinge im eigenen Haushalt.“ Diese kurze Anleitung zum Romanschreiben wäre wohl auch das kürzeste Todesurteil für alle Schreibschulen, wenn es „eigentlich“ so einfach wäre.
Dieses unscheinbare „eigentlich“ scheint aber das zu sein, was die sechs richtigen Zahlen beim Lottogewinn sind. Wenn ich eine volle Mülltüte auskippe und akribisch den Inhalt aufzähle, dann mag das ein dokumentareifes Kunstprojekt sein, aber ein Roman selbst nach bester Da-Da-Manier wird das wohl nicht werden. Wenn man aber Esins „brave“ Beschreibung der 100 Dinge hört oder liest, dann fällt auf, dass die Dinge nicht durch ihre Offensichtlichkeit zu wirken oder Sinn zu machen beginnen, sondern, dass sie eine Chiffre sind, ein Verweis, ja, eine Erzählung, wenn nicht sogar ein Schicksal, eine kurze aber tödliche Katastrophe, ein Verhaftungsbefehl, ein Stempel, ein Ortsname von einem Ort, aus dem man nicht wiederkehrt. Das wirkt und fährt in die Glieder. Die Dinge als Zeugen oder Verräter oder als Omen, wie die Unterschrift eines berüchtigten Richters oder das falsche Buch im Regal, das 200x lebenslänglich bedeutet. Um nur beispielhaft Dinge zu nennen, die Esin als Detail so nicht erwähnt hat. Dafür andere.
Dieses unscheinbare „eigentlich“ scheint aber das zu sein, was die sechs richtigen Zahlen beim Lottogewinn sind. Wenn ich eine volle Mülltüte auskippe und akribisch den Inhalt aufzähle, dann mag das ein dokumentareifes Kunstprojekt sein, aber ein Roman selbst nach bester Da-Da-Manier wird das wohl nicht werden. Wenn man aber Esins „brave“ Beschreibung der 100 Dinge hört oder liest, dann fällt auf, dass die Dinge nicht durch ihre Offensichtlichkeit zu wirken oder Sinn zu machen beginnen, sondern, dass sie eine Chiffre sind, ein Verweis, ja, eine Erzählung, wenn nicht sogar ein Schicksal, eine kurze aber tödliche Katastrophe, ein Verhaftungsbefehl, ein Stempel, ein Ortsname von einem Ort, aus dem man nicht wiederkehrt. Das wirkt und fährt in die Glieder. Die Dinge als Zeugen oder Verräter oder als Omen, wie die Unterschrift eines berüchtigten Richters oder das falsche Buch im Regal, das 200x lebenslänglich bedeutet. Um nur beispielhaft Dinge zu nennen, die Esin als Detail so nicht erwähnt hat. Dafür andere.
Und das andere, was mir aufgefallen ist, war, das eben diese gefundenen Dinge, Dokumente oder Mappen ihre Story erzählen im kombinierenden Geist des Finders, und dass neben dieser Story wohl eine andere Story bestand, eine „Saga der Familie“, dass der und der eben dieses und jenes… dass diese Familiengeschichte mit der Weltgeschichte jene fatale Gemeinsamkeit zu haben scheint, dass die Geschichtsschreibung der Überlebenden und Sieger tendenziöse Sagas sind und keine Wiedergabe der Fakten, der Ereignisse, sei es in der Familie oder sei es in der Welt.
Und jetzt kommt der doppelte Boden der ganzen Story, dass der Protagonist einerseits sowohl die Familiensaga als auch die Nationalsaga wie ein Kartenhaus unter dem Anblick der Fakten zusammenfallen lässt, die Saga eben als Erzähltes desillusioniert, anderseits aber selbst nun seine Saga erzählt.
Das scheint mir eben die Doppelbödigkeit der Narrativität, dass etwas erzählt wird, über etwas, was geschah, damit das Geschehen, was eigentlich unkontrollierbar ist, nachträglich als kontrolliert erscheint und uns das so Erzählte beruhigt, als sei das Leben letztlich auch nur eine Geschichte, eine Story – wenn zugegebenermaßen eine oft recht schlechte.
Zum Vergrößrn der Bilder diese anklicken